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Die Bindungstheorie

Unterrichtsfach: Behindertenarbeit


26.10.2025

Definition

Menschen sind von Geburt an darauf ausgerichtet, Schutz und Nähe bei Bezugspersonen zu suchen. Aus diesen Erfahrungen entwickeln sich innere Arbeitsmodelle vom Selbst und von Anderen: Wer erlebt, dass er gesehen und verstanden wird, verankert ein Gefühl von Grundsicherheit und Selbstwert. Wer dagegen Unberechenbarkeit, Vernachlässigung oder Gewalt erfährt, lernt, Nähe zu vermeiden. Diese frühen Muster sind keine starren Schicksale, sie bleiben jedoch in Stresssituationen hoch wirksam – auch im Erwachsenenalter und besonders bei psychischen Erkrankungen.

Bindung ist jedoch keine Schicksalsgröße: Die Qualität späterer Beziehungen, sichere Zweitbindungen und Interventionen können Entwicklungsbahnen positiv verändern.

Wichtigste Vertreter der Bindungstheorie

Der „Vater“ der Bindungstheorie ist John Bowlby, als „Mutter“ gilt Mary Salter Ainsworth. Sie hat Bowlbys Gedanken mit Feldforschung in Uganda und Baltimore untermauert und die diagnostische Methode der „Fremden Situation“ entwickelt. Geprägt wurde die Theorie zudem durch Harry Harlows Affenstudien, James und Joyce Robertson (Trennungsbeobachtungen im Krankenhaus), Michael Rutter (Langzeitfolgen früher Deprivation), Mary Main und Judith Solomon (Klasse „desorganisiert“), sowie durch psychoanalytische Objektbeziehungstheorien und kybernetische Steuerungsmodelle.

Wichtige deutschsprachige Beiträge stammen von Karin und Klaus E. Grossmann (Regensburger Längsschnitt, Feinfühligkeit und sichere Bindung), Lieselotte Ahnert (Krippen- und Tagesbetreuungsforschung), Karl Heinz Brisch (klinische Bindungsarbeit) und dem Berliner Team um Laewen, Andres und Hédervári-Heller, das das „Berliner Eingewöhnungsmodell“ für Krippen entwickelte. Aus Österreich ist vor allem Konrad Lorenz bedeutsam, dessen Ethologie Bowlby half, Bindung als biologisch verankertes Verhaltenssystem zu denken; ebenfalls prägend war Anna Freud mit ihren Arbeiten zu Kriegsevakuierungen.

Konrad Lorenz

Konrad Lorenz zeigte mit seinen Forschungen an Graugänsen, dass junge Tiere in einer bestimmten Lebensphase schnell eine feste Bezugsperson wählen und ihr folgen. Bowlby übernahm von ihm die Idee, dass Kinder von Geburt an Signale zeigen – wie Lächeln, Weinen oder Folgen –, um Nähe und Schutz zu bekommen. Im Unterschied zur Prägung ist Bindung beim Menschen wechselseitig, also eine gegenseitige Beziehung, in der das Kind und die Bezugsperson aufeinander reagieren. Außerdem hängt sie stark davon ab, wie feinfühlig und verlässlich die Pflegeperson ist.

Unterschiedliche Bindungsmuster

  • Menschen mit einem sicheren Muster können Nähe zulassen, Unterstützung annehmen und sich anschließend wieder der Umwelt zuwenden.
  • Unsicher-ambivalente Personen schwanken zwischen starkem Nähebedürfnis und Misstrauen, wirken schnell klammernd, geraten bei minimalen Trennungen in Alarm und prüfen permanent die Verfügbarkeit des Gegenübers.
  • Unsicher-vermeidende Menschen halten Distanz, signalisieren ihre Bedürfnisse kaum und regulieren Stress eher über Rückzug, Kontrolle und scheinbare Unabhängigkeit.
  • Bei desorganisierten Mustern brechen in Belastungssituationen widersprüchliche Strategien hervor; die Person wird unvorhersehbar, reagiert etwa auf Fürsorge mit Abwehr, weil Nähe selbst mit Gefahr verknüpft ist.

In der Behindertenarbeit begegnet man all diesen Dynamiken, häufig verschränkt mit Krankheitsbildern wie Depression, Psychose oder Persönlichkeitsstörungen und mit biografischen Erfahrungen von Trauma, Verlust oder Stigmatisierung.

Bindungstheorie in der Sozialbetreuung

Im Alltag der Behindertenarbeit bewährt sich das Prinzip der Co-Regulation. Wer psychisch belastet ist, kann Anspannung, Angst oder innere Leere oft nicht allein regulieren. Deine präsente, ruhige und feinfühlige Haltung stellt dann einen externen Stabilisator dar. Feinfühligkeit meint das Bemühen, Signale wahrzunehmen, richtig zu deuten und angemessen zu beantworten. Dazu gehört, das subjektive Erleben ernst zu nehmen, ohne es zu korrigieren; klar zu strukturieren, ohne zu bevormunden; Wahlmöglichkeiten zu eröffnen, ohne sich in endlosen Aushandlungen zu verlieren. Wenn jemand vermeidend reagiert, kann ein indirektes Angebot – „Ich bin in der Nähe, sagen Sie Bescheid, wenn Sie Unterstützung möchten“ – hilfreicher sein als drängende Fürsorge. Bei starker Ambivalenz sind kleine Schritte bedeutsam: kurze, überschaubare Kontakte, die verlässlich wiederkehren und so die Erfahrung ermöglichen, dass Nähe nicht zwangsläufig mit Verlust einhergeht.

Ein zentraler, oft unterschätzter Bereich bindungsorientierter Praxis sind Übergänge wie Arzttermine, Wohnungswechsel oder der Beginn einer neuen Maßnahme. Diese können Verunsicherung auslösen. Du wirkst präventiv, wenn du Übergänge früh ankündigst, visuell veranschaulichst, mit vertrauten Ritualen flankierst und nachbereitest. Ein gemeinsamer Blick auf den Ablauf („Was passiert zuerst, was danach?“) schafft Vorhersagbarkeit. Wenn möglich, sollte eine vertraute Person einen Übergang begleiten, damit die sichere Basis symbolisch mitwandert.

Bindungsorientierte Arbeit heißt auch, die eigene Person als Instrument zu pflegen. Wer mit intensiven Gefühlen arbeitet, wird unweigerlich in Resonanz geraten: Hilflosigkeit, Ärger, Rettungsimpulse, Erschöpfung. Professionelle Selbstfürsorge, kollegiale Fallbesprechungen und Supervision sind keine „Zugaben“, sondern Teil der methodischen Qualitätssicherung. Sie schützen nicht nur vor Burn-out, sondern erhöhen die Feinfühligkeit, weil Sie dir helfen, deine eigenen Affekte zu erkennen und zu regulieren. Ebenso wichtig ist eine gemeinsame Sprache im Team: Wenn alle Mitarbeiter* ähnliche Signale ähnlich deuten und ähnliche Interventionen anbieten, entsteht Konsistenz – ein Kernmerkmal sicherer Bindungserfahrung.

Bindungssensibles Handeln

Bindungssensibles Handeln zeigt sich in der Gestaltung von Routinen, Räumen und Tagesstrukturen. Überschaubare Pläne, visuelle Unterstützung, vertraute Plätze, sinnvolle Tätigkeiten mit erkennbaren Ergebnissen und berechenbare Pausen schaffen „äußere Halte“ für innere Haltlosigkeit. Sinnvoll ist, Selbstwirksamkeit systematisch zu fördern: kleine Aufgaben, die gelingen; Feedback, das konkret beschreibt, was gut war; echte Mitbestimmung bei Entscheidungen, die Betroffene direkt betreffen. Jede gelungene Erfahrung stellt die innere Arbeitsannahme ein Stück weit um: „Ich kann etwas bewirken, andere sind mir zugewandt, die Welt ist verlässlich genug.“

Viele Klientinnen bringen Lebensgeschichten mit, in denen Verlassensein, Gewalt, Flucht oder lange Krankenhausaufenthalte die Landkarte der Beziehungen geprägt haben. Du wirst in deiner Arbeit Momente erleben, in denen selbst gute Angebote abgewehrt werden, weil Nähe zu gefährlich erscheint. Gerade dann lohnt es sich, konsequent zu bleiben: verfügbar, vorhersagbar, klar und respektvoll.

Wenn du Bindung so verstehst – als sichere Basis, die Schutz, Struktur und Autonomie verbindet –, gewinnt deine Arbeit mit Menschen mit seelischen Behinderungen an Tiefe und Wirksamkeit. Du übersetzt ein entwicklungspsychologisches Konzept in konkrete Haltungen und Handgriffe: feinfühlig beobachten, nachvollziehbar handeln, Übergänge sichern, Krisen als Lerngelegenheiten nutzen, Teamkonsistenz herstellen, Selbstfürsorge ernst nehmen.

Quellen:

Weiterführende Literatur zum Thema Bindungstheorie:


Bild: ©pixabay.com, @Pexels