Vortrag von Rita Fussenegger
19.05.2025
Was die meisten von uns nur aus dem Operationssaal kennen – wenn wir für kurze Zeit unter Narkose stehen – begleitet Rita rund um die Uhr: 24 Stunden am Tag lebt sie mit einer invasiven Beatmung über ein Tracheostoma. Was das für ihren Alltag bedeutet und wie ihr Leben mit dieser medizinischen Realität aussieht, darüber sprach sie in einem beeindruckenden Vortrag.
Wahre Heldinnen erkennt man nicht an ihrem roten Cape. Man sieht sie nicht im Fernsehen. Wahre Heldinnen leben unerkannt unter uns.

Gegen sie wirkt Wonder Woman wie eine Comicfigur
„Erst nachdem ich die Diagnose ROHHAD erhalten hatte, wurde ich von den ÄrztInnen nicht mehr als psychisch krank abgestempelt.“ Mit diesen Worten beginnt Rita Fussenegger ihren Vortrag. „Wir leben in einem medizinischen System, in dem medical gaslighting nicht nur existiert, sondern für viele Betroffene zum Alltag gehört – besonders für Menschen mit seltenen Erkrankungen, chronischen Schmerzen oder psychischen Belastungen. Ihre Beschwerden werden oft verharmlost, in Frage gestellt oder ausschließlich psychologisiert, anstatt ernst genommen und gründlich abgeklärt zu werden.“
Deshalb – und aus vielen weiteren wichtigen Gründen – hat sich Rita Fussenegger entschieden zu kämpfen. Nicht nur für sich selbst. Nicht nur, um ihre Geschichte an die Öffentlichkeit zu bringen. Sondern auch für all jene, die Ähnliches erlebt haben und keine Stimme haben. „Suizid im Zusammenhang mit chronischen Erkrankungen“, sagt sie, „kommt häufig vor – weil Menschen in unserem System viel zu oft allein gelassen werden.“ Rita möchte diesen Menschen helfen, einen Weg zu finden, um ihr Leiden zu lindern. Das tut sie einerseits, um nicht ständig nur um das eigene Schicksal zu kreisen – und andererseits, um all jenen, denen es ähnlich geht, zu zeigen: Du bist nicht allein. Da ist jemand, der für dich kämpft.
Rita übernimmt nicht nur das Case Management für PatientInnen, die wie sie mit einem Tracheostoma leben – sie hat auch die NGO „Aufatmen“ ins Leben gerufen, eine Anlaufstelle für Betroffene, die Unterstützung und Sichtbarkeit schafft. Und ganz nebenbei hält sie auch noch Vorträge an Schulen und Universitäten über das Leben mit Tracheostoma und die seltene Erkrankung ROHHAD, die ihren Alltag prägt. Wie sie das alles schafft? „Wie die Spitzensportler,“ sagt sie, „ich stehe einfach trotzdem auf.“ Das sei sie sich selbst und all den Menschen um sie herum schuldig – schließlich gebe es so vieles, was sie zurückgeben möchte.
Das Schicksal bestimmte, dass Rita nicht den Laufsteg betritt – sondern den Weg einer wahren Heldin geht
Eigentlich wollte Rita Musikerin oder Model werden. Beide Wege hatte sie bereits beschritten, als sie erstmals das Gefühl beschlich, das etwas mit ihr nicht stimmte. Mit 12 Jahren spürte sie das erste Mal etwas, das sie damals noch nicht in Worte fassen konnte. Sie wusste einfach: Irgendetwas lief falsch. Und auch wenn ihre ÄrztInnen ihr etwas anderes sagten, hielt sie an diesem Gefühl fest. Der ärztliche Rat lautete: mehr Bewegung, gesunde Ernährung. Ihre Beschwerden seien vermutlich stressbedingt und das, was sie wahrnehme, bloß psychischer Natur.
Weit gefehlt. Rita begann stattdessen, ihre eigene Methode zu entwickeln, um der Ursache ihrer Symptome auf den Grund zu gehen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits mehrere Reanimationen überstanden – und schließlich führte ihr Weg mit einem Multiorganversagen ins Krankenhaus. Erst als sie sich im aktiven Sterbeprozess befand, mit 20 Jahren, erhielt sie die die Diagnose ROHHAD. Ein Alter, das die meisten Betroffenen gar nicht erreichen, da diese Erkrankung in der Regel im Kindheitsalter auftritt.
ROHHAD – eine Krankheit so rätselhaft wie eine unbekannte Welt
ROHHAD steht für „Rapid-Onset Obesity with Hypothalamic dysfunction, Hypoventilation, and Autonomic dysregulation“, was auf deutsch so viel heißt wie „Rasche Fettleibigkeit mit Hypothalamus-Dysregulation, Hypoventilation und autonomer Dysregulation“. Das ROHHAD-Syndrom ist eine sehr seltene, terminale Erkrankung. Sie ist gekennzeichnet durch das gleichzeitige Auftreten von Hypoventilation und einer Funktionsstörung des Hypothalamus, die mit einer raschen Gewichtszunahme und Temperaturregulationsproblemen einhergeht. Weltweit leben nur rund 100 Menschen mit ROHHAD. Eine wirksame Behandlung für die Erkrankung wurde bislang nicht gefunden.
Als Rita ins Koma fiel, entschieden die Ärzte, einen sicheren Atemweg anzulegen und sie langfristig zu beatmen. Seither ist Rita – wie mindestens die Hälfte aller Menschen mit ROHHAD – auf eine invasive Beatmung angewiesen. 24 Stunden täglich lebt Rita mit einer invasiven Beatmung. Ihr mobiles Beatmungsgerät hat sie immer dabei. „Manchmal vergesse ich glatt, dass ich eines habe“, sagt sie mit einem Schmunzeln. „aber das kann gefährlich werden – denn ich bin auf Strom angewiesen. Nach etwa 4 1/2 Stunden muss der Akku geladen werden. Wenn nicht, bleibt mir buchstäblich die Luft weg – und dann braucht es eine Reanimation.“ Ohne Beatmung kann es bei Rita zu einem plötzlichen Herz-Kreislauf-Stillstand kommen – ein lebensbedrohlicher Notfall, der tödlich endet, wenn nicht rechtzeitig reanimiert wird.
Damit Rita jederzeit die Gewissheit hat, im Notfall rechtzeitig reanimiert zu werden, ist ihre Mutter rund um die Uhr an Ritas Seite. „Ich bin auf meine Mutter angewiesen“, sagt sie, „aber sie auch auf mich. Sie erhält beispielsweise finanzielle Unterstützung, von der sie inzwischen – jetzt, wo sie nicht mehr arbeiten kann, weil sie Care-Arbeit leistet – ebenfalls abhängig ist.“ Auch während des Vortrags ist Ritas Mutter anwesend. Sie sitzt geduldig vor dem Klassenraum, während ihre Tochter spricht – jederzeit bereit, im Ernstfall eine Reanimation durchzuführen. Solche Notfälle treten im Schnitt etwa alle zwei Wochen auf.
Ungeblockt – die Stimme von Rita für alle mit Tracheostoma
Rita musste erst ins Koma fallen, um endlich eine Diagnose zu erhalten. Kein Wunder also, dass medical gaslighting zu einem ihrer zentralen Themen geworden ist. „Wenn die ÄrztInnen an ihre Grenzen stoßen, fällt es ihnen oft schwer zuzugeben, dass sie nicht weiterwissen.“ Dann neigen sie dazu, ihre Unwissenheit hinter Begriffen wie psychische Instabilität oder Stressreaktion zu verbergen. Ein fataler Fehler – denn das kostet vielen Menschen mit seltenen Erkrankungen das Leben. Statt ehrlich zu sagen „Wir wissen es nicht“, wird diagnostische Unsicherheit durch Etiketten ersetzt, die die PatientIn in eine psychologische Schublade stecken.
Für Betroffene wie Rita bedeutete das nicht nur einen dramatischen Zeitverlust in der Diagnosestellung, sondern auch tiefes Misstrauen gegenüber einem System, das eigentlich heilen sollte. Wenn der eigene Körper Signale sendet und diese von medizinischem Personal ignoriert oder umgedeutet werden, kann das nicht nur körperlich, sondern auch seelisch zerstören.
„Die Reanimationen sind passiert, weil alle weggeschaut haben.“
Rita kämpft deshalb heute nicht nur gegen eine seltene, lebensbedrohliche Erkrankung, sondern zusätzlich auch gegen das Schweigen und Wegsehen im medizinischen System. Sie nutzt ihre Stimme um aufzuklären, um Missstände zu benennen und um anderen Betroffenen Mut zu machen, ihrer Wahrnehmung zu vertrauen. Denn medizinische Irrtümer sind unvermeidbar – aber wie man mit ihnen umgeht, entscheidet darüber, ob Vertrauen entsteht oder zerbricht. Ritas Geschichte ist ein eindringlicher Appell an eine Medizin mit mehr Demut, mehr Zuhören und mehr Menschlichkeit.
Die eiserne Lunge: Der Vorläufer der invasiven Beatmung bei ROHHAD
Womit sie überhaupt nicht zu kämpfen scheint, ist ihr Tracheostoma. Für sie war die invasive Beatmung wie ein neues Leben, ein medizinisches Geschenk, das ihr nun, als außerklinischer Intensivpatient, ein Stück Lebensqualität zurückgibt. Bevor moderne Beatmungsverfahren verfügbar waren, kamen schwer betroffene ROHHAD-PatientInnen mit vergleichbaren hypoventilatorischen Syndromen an die sogenannte „Eiserne Lunge“. Diese ermöglichte die Atmung durch Unterdruck außerhalb des Körpers, der den Brustkorb mechanisch zum Heben und Senken brachte. Für Kinder mit ROHHAD, die nicht mehr ausreichend selbstständig atmen konnten – vor allem während des Schlafes –, war diese Technik eine der wenigen lebensrettenden Maßnahmen, bevor Tracheostomie und invasive Beatmungsmethoden zur Verfügung standen.
Heute arbeiten Beatmungstechnologien weitaus effizienter, kompakter und patientenfreundlicher. Mussten PatientInnen früher buchstäblich in einem stählernen Apparat liegen, aus dem nur der Kopf herausragte, erlaubt ein mobiles Beatmungsgerät heute deutlich mehr Bewegungsfreiheit und Selbstbestimmung im Alltag.
Zu den weiteren modernen Technologien, die bei ROHHAD eingesetzt werden können, gehört der Zwerchfellschrittmacher. Dabei handelt es sich um ein implantierbares Gerät, das elektrische Impulse sendet, um das Zwerchfell künstlich zu stimulieren und damit die Atmung zu unterstützen. Diese Methode kann insbesondere bei Patienten hilfreich sein, deren zentrale Atemansteuerung gestört ist, deren Zwerchfellmuskulatur jedoch noch intakt und kräftig genug ist, um auf die Stimulation zu reagieren. Das ist bei Rita leider nicht der Fall.
Was sie so stark macht: Rita hat einen Blick für das Positive
Aber auch, wenn das zunächst nach einer großen Enttäuschung klingen mag, geht Rita unbeirrt ihren Weg weiter – und verwandelt jede negative Erfahrung ihres Lebens in etwas Positives. „Viele PatientInnen mit Tracheostoma können nicht mehr essen. Das ist bei mir nicht der Fall“, sagt sie beiläufig – und in ihrer ruhigen, unaufgeregten Stimme schwingt so etwas wie Dankbarkeit. Auch der Hustenreflex ist noch immer intakt – ein weiteres Merkmal, das Rita zu einer außergewöhnlichen Patientin macht, denn die meisten beatmeten PatientInnen verlieren im Verlauf diesen natürlichen Schutzmechanismus, was das Risiko für Infektionen erheblich erhöht.
Ritas Außergewöhnlichkeit zeigt sich jedoch nicht nur in ihrer medizinischen Geschichte, sondern auch in ihrer Entschlossenheit, Grenzen zu verschieben. Entgegen aller skeptischen Stimmen von ÄrztInnen, die ihr sagten, das sei unmöglich, hat sie sich wieder dem Singen zugewandt – und gehört heute zu den wenigen invasiv beatmeten Menschen, die tatsächlich singen können. Ihr nächstes Ziel hat sie bereits fest im Blick: Sie will die erste Person sein, die mit invasiver Beatmung Tennis spielt.
Was ihre Stärke ausmacht: Sie blickt der härtesten Realität ins Auge und bleibt weiterhin positiv
Trotz all ihrer Pläne und Ziele, die sie mit beeindruckender Entschlossenheit verfolgt, muss auch Rita – wie jede Heldin – der Realität immer wieder ins Auge blicken. Und die Realität ist hart: Aktuell deutet vieles darauf hin, dass Rita eines Tages an den Folgen der dauerhaften Intubation sterben wird. Denn, so berichtet sie uns, die Lunge wird von der Langzeitbeatmung kaputt. Und doch schöpft sie Hoffnung – denn jeder neue Tag könnte einen medizinischen Durchbruch bedeuten. Unter dem Motto „This, today, is not the end“ kämpft sie weiter, mit bemerkenswerter mentaler Stärke. Mit dieser Kraft schenkt sie auch jenen Mut und Unterstützung, die ein ähnliches Schicksal auf ihren Schultern tragen.
Rita kennt die Sorgen anderer Betroffener. Sie kennt die Angst, die Verzweiflung, das Gefühl, im Stich gelassen zu werden. Die Hoffnungslosigkeit. Auch ihr wurde, wie so vielen anderen von Ärzten als „hoffnungslose Fälle“ eingestufte PatientInnen, bereits mehrfach Sterbebegleitung angeboten. Doch wie soll ein 23-jähriger Mensch, der noch so voller Leben ist, eine solche Entscheidung treffen? Solange auch nur ein Funken Hoffnung besteht, dass der nächste Tag ein lebenswerter sein könnte, würde niemand diesen Schritt gehen wollen. Rita will leben. Sie will jeden einzelnen Tag auskosten. Denn jeder Tag, den sie erleben darf, ist für sie ein Geschenk.
Ein Geschenk, das so viel leichter anzunehmen wäre, wenn es unterstützende Strukturen gäbe – Systeme, die Menschen mit seltenen Erkrankungen Hilfe und echte Perspektiven bieten. „Deshalb greifen wir so oft zur Sterbehilfe“, sagt sie und bleibt dabei abgebrüht ruhig wie jemand, der diese Worte nicht zum ersten Mal ausspricht – sondern schon oft darüber nachgedacht hat, was es wirklich bedeutet. „Weil es für uns keine Systeme gibt, die uns ein Stück Lebensqualität zurückgeben.“ Was fehlt, sind nicht der Lebenswille oder die Kraft – es fehlen schlicht die Systeme, die diesen Menschen das Leben erleichtern könnten.
Ihr Traum ist eine Wohngemeinschaft, in der junge Menschen mit terminalen Erkrankungen nicht nur gepflegt, sondern wirklich begleitet werden – ein Ort, der ihnen ein Stück Lebensqualität, Selbstbestimmung und Gemeinschaft zurückgibt. Für dieses Ziel lohnt es sich, sich jeden Tag wie eine Spitzensportlerin aus dem Bett zu kämpfen – trotz Schmerzen, Erschöpfung und der Schwere, die ihr Körper mit sich bringt. Trotz der Bürde des Schicksals, das sie anstatt des roten Capes auf ihren Schultern trägt.
Was Rita PflegerInnen auf ihrem Weg mitgeben will: Ein Appell aus gelebter Erfahrung
„Tragt eine Schutzmaske bei der Arbeit mit tracheotomierten PatientInnen – sie sind extrem anfällig für Infektionen aller Art“, lautet Ritas erster Tipp. Dann schmunzelt sie und fügt augenzwinkernd hinzu: „Außerdem wollt ihr den Schleim nicht ins Gesicht bekommen, wenn das Tracheostoma einmal entfernt wird.“ Ganz nebenbei erwähnt sie, dass auch die Vollvisiere aus der Corona-Zeit nach wie vor sehr zu empfehlen seien.
Ihren nächsten Rat äußert sie deutlich ernster: „Ein Stoma kann sich rasch entzünden. Es ist deshalb wichtig, sauber und hygienisch zu arbeiten – und die Haut rund um das Stoma immer genau zu beobachten.“
Und schließlich ein Hinweis, der Pflegekräfte besonders aufhorchen lässt: „Schlaft nicht auf der Intensivstation, wenn die beatmete Patientin schläft. Die meisten versterben im Schlaf.“ Ein Satz, der hängen bleibt – wie so vieles, was Rita sagt.
Ritas innigster Wunsch kommt ganz am Ende. „Meldet Fälle von medical malpractice“, sagt sie, bevor sie den Blick senkt und eine lange Pause macht. Es ist kein Appell im Zorn, sondern ein ernster Ruf nach Verantwortung.
Weitere Infos:
TikTok-Account von Rita Fussenegger
Website von Rita Fussenegger
Selbsthilfegruppe „Aufatmen“ für Betroffene mit Tracheostoma und invasiver Beatmung
youtube – Doku über Rita Fussenegger und das ROHHAD-Syndrom
Bild: ©Claudia Felbermayer