Kommentarliteratur zum Thema „Salutogenese“ des Fachs „Pflegeprozess“
08.04.2025
Was hält einen Menschen gesund – auch wenn es eigentlich allen Grund hätte, krank zu werden? Das Konzept der Salutogenese beantwortet diese Frage eindrucksvoll. Es zeigt Wege auf, wie körperliche und seelische Gesundheit gefördert werden kann – selbst inmitten von Belastung, Stress und Krankheit.
Was es bedeutet, eine gesunde Einstellung zu haben
Die Salutogenese ist ein holistisches Konzept, das davon ausgeht, dass der Geist den Körper beeinflusst. Einstellungen, Überzeugungen und Verhaltensweisen tragen demnach aktiv dazu bei, gesund zu bleiben – oder zu werden. Ein vertrauensvoller Umgang mit Herausforderungen stärkt die seelische Widerstandskraft – und diese psychische Stärke wirkt sich positiv auf körperliche Prozesse aus. Das bedeutet: Wer innerlich stabil ist, sich selbst als wirksam erlebt und Vertrauen ins Leben hat, hat bessere Chancen, gesund zu bleiben oder wieder gesund zu werden – selbst unter widrigsten Bedingungen.
Trotz physischer und psychischer Gewalt: Wie Überlebende zuversichtlich und gesund blieben
Die Salutogenese ist eigentlich ein gesundheitsförderndes Konzept, ist jedoch ebenso für kranke Personen anwendbar. Es beantwortet die Frage „Warum bleiben Menschen trotz Risikofaktoren gesund?“. Entwickelt hat es der israelisch-amerikanische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky. In seinem Buch Health, Stress and Coping beschreibt er, dass die Art, wie Menschen mit Stress umgehen, entscheidend ist für deren Gesundheit. Zentral ist dabei die Fähigkeit, das Leben als verstehbar, handhabbar und sinnvoll zu erleben – kurz: ein starkes Kohärenzgefühl zu entwickeln. Antonovsky zeigt, dass nicht die Abwesenheit von Stress entscheidend ist, sondern wie man ihm begegnet.
Die Forschungsergebnisse, die Antonovsky in seinem Buch veröffentlichte, zeigen, wie gewaltig die Salutogenese wirken kann: Er untersuchte jüdische Frauen, die Konzentrationslager überlebt hatten, und trotz der schlimmsten physischen und psychischen Belastungen, denen sie ausgesetzt waren, eine überraschend stabile physische und psychische Gesundheit zeigten. Was sie unterschied, war nicht ihr Leidensweg, sondern die Art, wie sie ihn bewältigten. Jene, die trotz allem ein starkes Kohärenzgefühl entwickelten – die Sinn im Leben sahen, die das Erlebte einordnen konnten und Vertrauen in ihre eigenen Bewältigungsstrategien hatten – waren widerstandsfähiger, seelisch gesünder und körperlich stabiler.
Ein hohes Kohärenzgefühl führt zu einem gesunden Leben
Wenn man das Kohärenzgefühl mit einem einzigen Wort beschreiben müsste, dann wäre es: Vertrauen. Vertrauen darauf, dass das Leben Sinn ergibt, dass Herausforderungen lösbar sind und dass das eigene Leben verstehbar ist. Wenn man Vertrauen hat, fühlen sich Lebenseregnisse stimmig an. Und wenn es sich stimmig anfühlt, hat man ein hohes Gefühl von Selbstwirksamkeit.
Für Antonovsky ist ebendieses Kohärenzgefühl der Schlüssel zur Gesundheit. Es ist das Fundament, auf dem sich Resilienz und Selbstwirksamkeit aufbauen. Drei Elemente formen dieses Gefühl von Kohärenz: Sinnhaftigkeit – das Vertrauen, dass auch schwierige Ereignisse einen übergeordneten Sinn haben; Handhabbarkeit – das Vertrauen, dass man die inneren und äußeren Ressourcen besitzt, mit Herausforderungen fertigzuwerden; und Verständlichkeit – das Vertrauen, dass das Leben grundsätzlich logisch und erklärbar ist. Je stärker das Menschenwesen dieses Gefühl in sich trägt, desto gesünder kann es bleiben oder werden.
Herzkohärenz – eine in den Schulen noch nicht angekommene Hypothese aus dem Konzept der Salutogenese
Das Konzept der Kohärenz wird von zahlreichen Institutionen weiterentwickelt und in verschiedenen Kontexten angewendet. Das HeartMath Institute zum Beispiel befasst sich mit der sogenannten Herzkohärenz1) – einem bestimmten Herzrhythmus-Muster, das emotionale Stabilität, Leistungsfähigkeit und Gesundheit verspricht. Herzkohärenz ist somit ein messbarer Zustand, der viel über die Harmonie zwischen Herz, Gehirn, Emotionen und Nervensystem aussagt und auch aktiv verbessert werden kann.
Studien des HearthMath Institutes zeigen zum Beispiel, dass Pflegende mit hoher Herzkohärenz widerstandsfähiger sind und sich selbst als wirksamer erleben2). Auch Menschen mit chronischen Erkrankungen profitieren von einer hohen Herzkohärenz: Sie kann Angst reduzieren, posttraumatische Belastungsstörungen lindern, den Blutdruck senken oder sogar Asthma verbessern3). Besonders spannend: Selbst im Leistungssport zeigt sich die Wirkung. Fußballspieler mit hohem Herzkohärenzniveau performen nach gezieltem Training messbar besser4). Das zeigt, wie stark Körper und Geist durch bewusste innere Steuerung in Einklang gebracht werden können.
Salutogenese als Konzept für ein gesundes Leben
Die Salutogenese ist eines der fortschrittlichsten Konzepte zur Gesundheitsförderung, weil es nicht nur auf Risikofaktoren fokussiert, sondern auch auf Schutzfaktoren – jene positiven Kräfte, die helfen, Gesundheit zu bewahren oder zurückzugewinnen. Immer mehr Gesundheitssysteme in Europa greifen daher die Ideen der Salutogenese auf. Auch hierzulande ist das Modell von Antonovsky bereits im Gesundheitswesen angekommen. In Österreich bietet die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) Programme wie Nordic Walking oder Familienbewegungstage an, um die Gesundheitsressourcen von Menschen zu stärken.
Du bist nicht selbst schuld an deiner Situation: Was Salutogenese NICHT ist
Das Konzept der Salutogenese wird in der Gesellschaft leider häufig missverstanden. Es legt großen Wert auf innere Ressourcen wie Vertrauen, Sinnhaftigkeit und Selbstwirksamkeit – doch das bedeutet nicht, dass ein Mensch mit psychischen Belastungen selbst verantwortlich oder „schuld“ an seiner Lage ist, weil es nicht die „richtige Einstellung“ hätte oder „die richtigen Verhaltensweisen“ an den Tag lege.
Um das Konzept der Salutogenese anzuwenden, müssen Bedingungen geschaffen werden, unter denen Vertrauen überhaupt erst entstehen kann. Wenn ein Mensch in seinem Leben nie Urvertrauen erfahren hat, kann es dieses Gefühl nicht einfach „herstellen“. Wer nie Selbstwirksamkeit erlebt hat, kann sie nicht einfach spielen oder sie sich einreden. Es ist nicht das Menschenwesen, das versagt, sondern die therapeutischen Systeme, die noch keine Methoden entwickelt haben, um das Konzept der Salutogenese praktisch umzusetzen, und das Menschenwesen dadurch auf seinem Heilungsweg zu unterstützten.
Die Salutogenese ist ein Konzept, das zeigt, wie viel Einfluss das Menschenwesen auf seine eigene Gesundheit hat. Es ist eine Einladung, sich selbst, den eigenen Alltag und die innere Haltung mit neuen Augen zu betrachten – und vielleicht neue Wege zur Gesundheit zu entdecken.
Quellen:
1) Die wissenschaftlichen Grundlagen des HeartMath® Systems, heartmathinstitute.de
2) Studie: Die Wirksamkeit der Herzintelligenz-Methode hinsichtlich Resilienz und Selbstwirksamkeit bei Pflegemitarbeiter*innen, heartmathinstitute.de
3) Wirksamkeit von Herzkohärenz: Gute Nachrichten für chronisch Kranke, heartmathinstitute.de
4) Besser Fußball spielen dank Herzkohärenz-Training, heartmathinstitute.de
Beitragsbild: pixabay.com, @Buecherwurm_65