Von archaischen Anfängen bis zur Gegenwart (mit Fokus auf Österreich)
26.04.2025
Europa hat im Laufe der Jahrhunderte einen tiefgreifenden Wandel im Strafrecht erlebt. Jeder Entwicklungsabschnitt spiegelt wider, welches Menschenbild in der jeweiligen Epoche vorherrschte. Im Folgenden werden die wichtigsten Epochen – von der Antike bis heute – einzeln betrachtet. Am Ende werfe ich einen Blick darauf, warum das humanistische Menschenbild zur europäischen Tradition wurde, was es bewirkt hat und weshalb es dem Strafrecht bis heute als richtungsweisende Grundlage dient.
Nicht jeder Mensch besitzt die gleiche Hemmung gegenüber Gewalt. Besonders Personen mit neurologischen Störungen, wie etwa der Psychopathie, zeigen eine deutlich reduzierte Empathiefähigkeit und haben daher auch eine verminderte natürliche Hemmung gegenüber Gewalthandlungen. Neue Studien zeigen, dass es beim Menschen eine biologische Basis für Tötungshemmungen gibt, die jedoch individuell unterschiedlich ausgeprägt ist.
Zudem haben Empathie und soziale Bindungen evolutionär eine wichtige Funktion entwickelt: Sie fördern das kooperative Zusammenleben in Gruppen und begünstigen damit eine natürliche Hemmung gegenüber Gewalt(1). Es ist eine biologisch verankerte Reaktion, dass Menschen instinktiv Abneigung gegen das Zufügen von Leid empfinden. Umgekehrt zeigen Beispiele wie Krieg oder andere existenzielle Notlagen, dass diese Hemmungen in Extremsituationen auch überwunden werden können. Tötungshemmungen sind also zwar vorhanden, aber flexibel und kontextabhängig.
Antike: Die Wiege des humanistischen Menschenbilds
In der Antike basierte das Strafrecht auf einem archaischen Menschenbild: Verbrechen galten als Angriff auf die Ordnung, die durch strenge Vergeltung wiederhergestellt werden musste. Frühe Gesetzessammlungen wie der babylonische Codex Hammurabi oder die Zwölf Tafeln im römischen Reich kannten das Prinzip der Vergeltung („Auge um Auge“). Die Würde des Einzelnen war dabei stark von Rang und Status abhängig. Ein römischer Bürger wurde für ein schweres Verbrechen anders hingerichtet als ein Nichtbürger oder Sklave (2). So blieben etwa Kreuzigungen rebellischen Untertanen und Sklaven vorbehalten, während römische Bürger (vor allem aus höheren Ständen) in der Regel „mildere“ Hinrichtungen wie die Enthauptung erhielten. Humanitäre Überlegungen spielten dabei kaum eine Rolle – wichtig war, die göttliche und gesellschaftliche Ordnung durch die Sühne des Täters (oft in Blut) wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Frauen spielten in der Gesetzgebung dieser Epoche keine gestalterische Rolle; Recht setzten Männer durch, in der Regel Monarchen.
Allerdings entstanden in dieser Epoche auch erste Ansätze eines humanistischen Denkens. Philosophen wie Sokrates, Platon und Aristoteles setzten sich mit der Frage auseinander, was Gerechtigkeit bedeutet. Sokrates etwa vertrat im „Gorgias“ die Meinung, dass es für den Täter besser sei, für seine Schuld bestraft zu werden, als ungestraft zu bleiben – Strafe verstand er als eine Art Heilung der Seele. Platon entwickelte in seinem Werk „Nomoi“ die Idee, dass Strafen nicht bloß Vergeltung sein sollten, sondern auch eine pädagogische Funktion haben müssten: Ziel sei es, den Täter zu bessern. Aristoteles wiederum unterschied im Werk „Nikomachische Ethik“ zwischen freiwilligem und unfreiwilligem Unrecht und betonte, dass Strafen maßvoll und der Schwere der Tat angepasst sein sollten. Schon bei ihm klingt die Idee an, dass Strafe nicht blind wüten dürfe, sondern gerecht und zweckgerichtet sein müsse.
Auch Cicero, der römische Staatsmann und Philosoph, griff diese Gedanken auf. In seinen Schriften über das Recht (De Legibus, De Re Publica) betonte er, dass Gesetze dem Wohle der Bürger dienen müssten und Gerechtigkeit nur da existiere, wo das Recht vernünftig und maßvoll sei. Dennoch sah er zugleich jedoch die Notwendigkeit harter Strafen, um die Ordnung der Republik zu bewahren.
Innerhalb der antiken Geisteswelt gab es bereits eine Ahnung eines humanistischen Strafgedankens: Strafe sollte nicht bloß vergelten, sondern zur Besserung beitragen. Dennoch blieben diese Ideen auf kleine elitäre Kreise beschränkt und fanden kaum Eingang in die reale Strafrechtspraxis. Die gesellschaftliche Wirklichkeit blieb archaisch: Sklaverei war selbstverständlich, Frauen und Nichtbürger galten als minderwertig, und Strafen wie Kreuzigungen, Verbrennungen oder Gladiatorenkämpfe waren öffentlich akzeptierte Formen der Rechtsdurchsetzung.
Mittelalter: Culpabilitäres Menschenbild
Im Mittelalter dominierte ein religiöses Menschenbild, das den Menschen als fehler- und sündhaftes Wesen betrachtete, dessen Erlösung allein durch göttliche Gnade möglich sei. Verbrechen galten nicht nur als Rechtsbruch, sondern auch als Verbrechen gegen Gott. Dementsprechend verstand man Strafe zugleich als irdische und göttliche Sühne. Das Menschenbild war dualistisch: auf der einen Seite als Ebenbild Gottes, auf der anderen Seite als gefallener Sünder, der bestraft werden muss, um seine Seele zu retten oder die Gemeinschaft von der Sünde zu reinigen. Dieses Spannungsfeld spiegelte sich direkt im Rechtssystem wider, das kirchlich-juristisch organisiert war – eine Trennung zwischen geistlicher und weltlicher Justiz existierte nicht. Sie unterstand der kirchlichen Gerichtsbarkeit(3).
Die Strafpraxis im Mittelalter war häufig grausam und ritualisiert. Öffentliche Hinrichtungen, Verstümmelungen und Prangerstrafen standen auf der Tagesordnung. Da viele Rechtsfälle mit Gottes Willen verknüpft wurden, gab es Gottesurteile wie das Ordal (Feuer- und Wasserproben), bei denen man glaubte, Gott werde durch Wunderzeichen die Unschuld oder Schuld zeigen. Folter wurde als „peinliche Befragung“ systematisch eingesetzt, um Geständnisse von Angeklagten zu erzwingen – insbesondere bei schwer fassbaren Delikten wie Hexerei, Ketzerei oder Teufelsbuhlschaft. Vom Hochmittelalter bis zur frühen Neuzeit zog sich dieses Vorgehen hin: Geständnisse zu Hexerei oder Ketzerei wurden förmlich durch körperliche Qual erpresst(4). Dahinter stand die Überzeugung, der Mensch als Sünder müsse im Gerichtssaal gequält werden, um die Wahrheit ans Licht zu bringen – ein deutlich religiös geprägtes Menschenbild, das das Seelenheil durch Leiden reinigen wollte.
Auch in der Gesetzgebung jener Zeit spiegelt sich dies. Die Constitutio Criminalis Carolina von 1532 – die peinliche Gerichtsordnung von Kaiser Karl V. schrieb für das Heilige Römische Reich (zu dem auch österreichische Lande gehörten) die Anwendung der Folter unter bestimmten Umständen vor. Strafen wie das Radfahren (tödliches Knochenbrechen auf dem Rad), Vierteilen oder Verbrennen (etwa bei Ketzern und Hexen), allesamt oft bei lebendigem Leibe exekutiert, waren gängige Vollzugspraxis. Dahinter stand die Idee, dass durch strenge Strafe göttliche Gerechtigkeit hergestellt und die Gesellschaft vor dem Bösen geschützt werden könne.
Frauen tauchen in dieser Epoche als Opfer oder Beschuldigte auf, als Gesetzgeberinnen oder Reformatorinnen waren sie so gut wie nicht sichtbar, auch wenn es vereinzelt Frauen gab, die das Strafrecht zumindest indirekt mitprägten: Königinnen und Fürstinnen übten Gnadenrechte aus oder setzten eigene Akzente. Beispielsweise unterzeichnete Eleonore von Aquitanien im 12. Jahrhundert als Regentin Begnadigungen.
Frühe Neuzeit und Aufklärung: Humanistisches Menschenbild
Erst mit der Reformation (16. Jahrhundert) und der Aufklärung (17. Jahrhundert) in der Frühen Neuzeit begann eine allmähliche Trennung von Kirche und Staat im Rechtswesen. Als Gegenreaktion verschärfte die Kirche in dieser Zeit die Hexenprozesse, die sich zunehmend zu einer entfesselten Wahnjustiz entwickelten. Doch die kirchliche Justiz prägte das Rechtssystem noch bis weit in die Neuzeit hinein. Erst im 19. Jahrhundert wurde die kirchliche Gerichtsbarkeit eingeschränkt und das Strafrecht säkularisiert.
Die Aufklärung brachte einen tiefgreifenden Wandel im Menschenbild: Das humanistische Menschenbild, das bereits in der Antike angelegt war, gewann an Einfluss. Humanismus bedeutete, den Menschen als ein denkendes und fühlendes Wesen zu betrachten, das mit angeborenen Rechten und mit Würde ausgestattet ist. Im Strafrecht schlug sich dies in einer wachsenden Kritik an den grausamen Strafpraktiken nieder. Philosophen, Juristen und aufgeklärte Herrscher begannen europaweit, Strafen an Maßstäben der Vernunft und Menschlichkeit zu messen.
Bereits gegen Ende des 17. Jahrhunderts gab es erste Ansätze zur Mäßigung. So sprach sich z.B. der deutsche Gelehrte Christian Thomasius 1701 in der Schrift „Kurze Lehrsätze über das Laster der Zauberei“(5) gegen die Folter und die wahnhaften Auswüchse der Hexenprozesse aus. Dieser Geist fand im 18. Jahrhundert enorme Verstärkung durch weitere Werke. So forderte Cesare Beccaria in seinen Schriften etwa klare Gesetze, rechtsstaatliche Verfahren und die Abschaffung der Folter und Todesstrafe.(6) Ähnlich argumentierte in Österreich der Wiener Humanist und Jurist Hofrat Joseph von Sonnenfels, der 1775 die Schrift „Über die Abschaffung der Folter“ veröffentlichte(7). Sonnenfels und Beccaria brachten eine neue Denkweise in Gang: Strafe solle nützen, nicht grausam sein; sie müsse gerecht, zweckmäßig und der Menschenwürde angemessen sein.
Diese Ideen fielen bei manchen Regenten der Aufklärungszeit auf fruchtbaren Boden. Herrscher und Herrscherinnen des aufgeklärten Absolutismus versuchten, die Justiz zu reformieren. In dieser Epoche sind auch erstmals Frauen an entscheidender Stelle zu nennen: Maria Theresia, die regierende Erzherzogin von Österreich (1740–1780), ließ 1768 mit der Constitutio Criminalis Theresiana das erste einheitliche Strafgesetzbuch für die österreichischen Erblande erarbeiten.(8) Eine zentrale Rolle bei der Erarbeitung spielte Joseph von Sonnenfels.
Die Theresiana war zwar noch stark von der alten Denkweise geprägt – es erlaubte weiterhin Folter, allerdings in eng umrissenen Fällen und mit katalogisierten Methoden(4). 1776 schaffte Maria Theresia die Folter in ihren Erblanden endgültig ab. Dies war ein Meilenstein: Zum ersten Mal wurde ein zuvor selbstverständliches Instrument der Strafjustiz aus humanitären Gründen verbannt. Heute markieren diese Reformen einen wesentlichen Abschnitt im offiziellen Beginn der humanistischen Rechtsvorstellung in Österreich.
Maria Theresia schaffte zwar schon kurz nach Einführung ihres neuen Strafrechtssystems, in dem die Folter unter gewissen Umständen noch erlaubt war, die praktische Anwendung der Folter per Verordnung ab, als Strafrechtssystem blieb die Constitutio Criminalis Theresiana jedoch noch ein weiteres Jahrzehnt aufrecht. Erst unter Joseph II., dem Sohn Maria Theresias, kam es 1787 mit der Einführung des Josephinischen Strafgesetzbuches (Constitutio Criminalis Josephina)(9) zu einer vollständigen Ablösung – und damit auch zur formalen Entfernung der Folter aus dem Rechtssystem.
Joseph II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, verkörperte den aufgeklärten Monarchen par excellence. Joseph hatte bereits seit 1781 keine Hinrichtungen mehr durchführen lassen, sechs Jahre bevor es auch im Gesetz festgeschrieben wurde. Anstelle der Hinrichtung traten ab diesem Zeitpunkt andere Strafen. Das einzige Delikt, für das noch die Todesstrafe vorgesehen war, war Mord. Doch selbst da wurde de facto auf lebenslange schwere Kerkerhaft ausgewichen(4). Gleichzeitig ordnete Joseph II. an, die Strafen insgesamt milder zu gestalten und mehr auf die Erziehung des Täters zu zielen. So wurde etwa der öffentlicher Pranger durch Zuchthausarbeit ersetzt.
Der offizielle Beginn humanistischer und aufgeklärter Rechtsvorstellungen in Europa setzte sich im 18. Jahrhundert fast zeitgleich in allen wichtigen Regionen und großen Staaten durch, mit nur wenigen Jahrzehnten Unterschied. Zwar gab es regionale Unterschiede in Tempo und Intensität der Reformen, doch insgesamt war das 18. Jahrhundert jene Epoche, in der sich die Vernunft, die Menschlichkeit und die Rechtsstaatlichkeit zunehmend als Maßstäbe im europäischen Strafrecht etablierten. An dieser Entwicklung, weg von einem von Willkür und Grausamkeit bestimmten Strafsystem, hin zu einem von Vernunft und Menschenwürde geprägten Rechtsverständnis, hatten Humanisten seit dem 14. Jahrhundert gearbeitet.
Schon ein Jahr vor Joseph II. schaffte Josephs Bruder Leopold, Großherzog der Toskana (später Kaiser Leopold II.) 1786 in der Toskana als erstem Land der Welt die Todesstrafe vollständig ab. In Artikel 51 seines Criminalgesetzbuches begründete er dies mit bemerkenswert humanen Argumenten: Der Zweck der Strafe dürfe nicht Rache sein, sondern Besserung des Delinquenten, Schutz der Gesellschaft und Abschreckung – und zwar mit den gelindesten Mitteln, die noch wirksam seien(6). Wörtlich stellte er fest, der Straftäter sei „doch auch ein Sohn der Gesellschaft und des Staats, an dessen Besserung man nie verzweifeln darf“. Dieses Credo – dass man niemals die Hoffnung aufgeben dürfe, einen Verbrecher zum Guten zu verändern – ist der Kern des humanistischen Menschenbildes im Strafrecht. Statt Qual und Vernichtung rückten erzieherische Ziele und der Respekt vor der Würde eines jeden Menschen in den Vordergrund.
Auch Frauen traten in dieser Zeit als Akteurinnen im Strafrecht hervor. Zwar blieb ihnen, wie bereits seit dem Hochmittelalter, der Zugang zur Berufsjuristin verwehrt, doch als Herrscherinnen oder als einflussreiche moralische Stimmen waren sie in der Zeit der Aufklärung deutlich hörbar. In Großbritannien engagierte sich etwa die Quäkerin Elizabeth Fry ab 1813 für die Verbesserung der Gefängnisse, vor allem für weibliche Veruteilte. Fry war eine frühe Pionierin, die von christlich-humanistischen Motiven geleitet wurde. Insgesamt jedoch waren es in der Aufklärung vor allem männliche Denker (Beccaria, Voltaire, Montesquieu, Sonnenfels) und Herrscher (Joseph II., Leopold II., Friedrich der Große), die das neue Menschenbild prägten.
19. Jahrhundert: Liberales Strafrecht und erste Reformen
Das 19. Jahrhundert stand im Zeichen eines liberalen Menschenbildes im Strafrecht: Der Täter ist zwar weiterhin zu bestrafen, doch soll das Gesetz für alle gleich gelten, willkürliche Grausamkeiten werden verpönt. Gleichzeitig beginnt man, den Täter auch als Produkt sozialer Umstände zu sehen – eine Idee, die später in sozialen Reformen mündet. Frauen tragen hier vor allem im philanthropischen Bereich bei (etwa durch Gefangenenfürsorge wie bei Elizabeth Fry), während formal die großen Strafgesetze meist von Männern erlassen werden. Dennoch: Die Saat für humanere Behandlung war gelegt, und am Horizont zeichnete sich bereits ab, dass Strafen eines Tages primär der Resozialisierung dienen könnten.
Im 19. Jahrhundert setzte sich die Entwicklung zu einem humaneren Strafrecht fort, wenn auch mit manchen Rückschlägen. Das vorherrschende Menschenbild in weiten Teilen Europas war nun geprägt von liberalen Ideen und beginnendem wissenschaftlichen Denken über Verbrechen. Nach den Napoleonischen Kriegen wurden viele Rechtsordnungen neu geordnet. In den österreichischen Erblanden etwa galt nach Joseph II. zunächst dessen mildes Gesetz weiter – doch 1795, wenige Jahre nach seinem Tod, machte Kaiser Franz II. einige Reformen rückgängig(4). Er führte in Österreich im Jahre 1803 die Todesstrafe schwere Verbrechen, zu denen auch Hochverrat zählte, wieder ein. Das humanistische Menschenbild war auch nach seiner offiziellen Anerkennung keineswegs unumstritten: In der Restauration wollten konservative Kräfte die „harte Hand“ der Justiz wieder stärken. Ähnliches geschah in anderen Ländern – 1794 drohte etwa das preußische Allgemeine Landrecht von 1794 weiterhin die Todesstrafe bei bei zahlreichen Delikten an(6).
Dennoch blieben die optimistischen Impulse der Aufklärung lebendig. Im 19. Jahrhundert gab es in vielen Staaten schrittweise Strafrechtsreformen. Körperstrafen wie Auspeitschen oder Brandmarken verschwanden langsam aus den Gesetzbüchern oder wurden seltener vollstreckt. Öffentliche Hinrichtungen wurden zunehmend kritisiert; die letzte öffentliche Hinrichtung in Österreich fand am 30. Mai 1868 in Wien statt. Dabei wurde Georg Ratkay wegen Raubmordes auf dem Richtplatz am Wienerberg, der „Spinnerin am Kreuz“, gehenkt(10). Danach wurden Exekutionen hinter die Gefängnismauern (in den „Galgenhof“) verlegt.
Das österreichische Strafgesetz von 1852 (Allgemeines Strafgesetz für das Kaiserthum Österreich) löste die Josephinische Gesetzgebung ab und sah wieder die Todesstrafe für Mord und einige andere Delikte vor. Zugleich war es aber ein geordnetes, kodifiziertes Gesetz, das Rechtsgleichheit versprach. Die Strafen bestanden nun vor allem in Freiheitsstrafen (Kerker, Haft) und gelegentlich schwerem körperlichem Arrest; öffentliche Folter oder Willkürjustiz gehörten der Vergangenheit an. Man kann sagen: Das Strafrecht wurde insgesamt rationaler und gesetzlicher, was Ausdruck eines liberal-rechtsstaatlichen Menschenbildes war – der Täter als mündiger Bürger, der die Folgen seiner Tat trägt, aber auch Rechte im Verfahren hat.
Gleichzeitig entwickelten sich neue Denkrichtungen. Um 1870 herum begründeten Forscher wie Cesare Lombroso in Italien die Kriminologie als Wissenschaft. Gleichzeitig stellten sie sie Theorien auf, wonach Verbrecher psychisch krank seien. Dieses Menschenbild sah den Straftäter eher als durch Genetik oder Umfeld geprägt und weniger als frei verantwortlichen Bürger. Daraus folgte die Idee, die Gesellschaft müsse sich durch Vorbeugung und Verwahrung vor „gefährlichen“ Elementen schützen, anstatt nur moralisch zu strafen. In der Praxis führten solche Überlegungen zu Einrichtungen wie der Sicherungsverwahrung (Vorläufer waren Verwahranstalten für „gefährliche Irre“ etc.). Einerseits entstand daraus später manches humanwissenschaftliche Konzept (etwa Therapie für abnorme Rechtsbrecher), andererseits drohte der einzelne Mensch hinter Kategorien („Gewohnheitsverbrecher“, „Geisteskranker“) zu verschwinden. Man sieht: Das 19. Jahrhundert schwankte zwischen humanitärem Fortschritt und neuen, teils entmenschlichenden Theorien.
Nichtsdestotrotz verbesserten sich die Zustände im Strafvollzug. Gefängnisreformen griffen um sich. In England trieb die Quäkerin Elizabeth Fry entschiedene Reformen voran: Sie besuchte Londoner Gefängnisse, entsetzt über die dortigen Zustände (Frauen und Kinder eingepfercht mit Männern, Schmutz, Gewalt), und gründete 1817 eine Hilfsorganisation für Gefangene. Mit ihrer empathischen, religiös inspirierten Art gewann Fry sogar Unterstützung von höchster Stelle – Königin Victoria in England und Zar Alexander I. von Russland bewunderten sie(11). Frys Einsatz schlug sich im britischen Gefängnisgesetz von 1823 nieder, das etwa vorsah, dass weibliche Gefangene von weiblichen Aufseherinnen betreut werden mussten. Man nannte sie anerkennend den „Engel der Gefängnisse“. Erstmals nahm eine Frau direkt Einfluss auf Strafvollzugsregeln – ein Novum in der männerdominierten Rechtswelt. In der zweiten Jahrhunderthälfte setzten ihre Anliegen sich langsam auch auf dem Kontinent durch: Trennung der Häftlinge nach Geschlecht, Mindeststandards an Hygiene und Versorgung, Ansätze von Seelsorge und Arbeitstherapie im Zuchthaus.
In Österreich gab es zwar keine so berühmte Einzel-Reformerin, doch auch hier nahmen Frauen indirekt Einfluss auf den Vollzug. Die Frauenbewegung, die sich ab etwa 1850 formierte (Protagonistinnen wie Auguste Fickert(12) und Rosa Mayreder um 1900), kritisierte etwa die Doppelmoral im Strafrecht – z.B. die Prostitutionsgesetze, welche die Frauen kriminalisierten, während die Freier unbehelligt blieben. Solche Stimmen bereiteten langfristig Reformen im Sexualstrafrecht vor. Außerdem erkämpften Frauenrechtlerinnen wie Marianne Hainisch Bildungschancen für Frauen, wodurch schließlich (ab 1919) Frauen juristische Berufe ergreifen konnten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts tauchten die ersten weiblichen Juristinnen auf – in Österreich zwar erst nach 1900, aber in anderen Ländern (Russland, USA) auch schon etwas früher. Diese Entwicklungen legten den Grundstein dafür, dass Frauen im 20. Jahrhundert offiziell am Gesetzgebungs- und Justizprozess teilnehmen konnten.
Nationalsozialismus: Utilitaristisches Menschenbild
Die NS-Zeit markierte einen Tiefpunkt: Das Strafrecht verlor jeden Anflug von Humanität und wurde zum verlängerten Arm einer totalitären Ideologie. Der einzelne Mensch zählte nichts, wenn er gegen die „Volksgemeinschaft“ verstieß. Strafe diente nicht mehr der Gerechtigkeit oder Erziehung, sondern nur noch der Vernichtung oder Abschreckung im Sinne der Herrschenden. Diese Episode zeigte der Welt drastisch, wohin ein Strafrecht ohne Menschlichkeit führen kann – eine Lehre, die nach 1945 maßgeblich dazu beitrug, das humanistische Menschenbild wieder als Grundlage zu etablieren.
Ein düsteres Kapitel stellt die Zeit des Nationalsozialismus dar (1933–1945, in Österreich ab 1938). Hier wurde die Bevölkerung durch ein utilitaristisches Menschenbild unterdrückt, das den Menschen auf ihren Nutzen reduzierte. Die Ideologie der Nazis sprach bestimmten Gruppen von Menschen jeglichen Wert ab – und ähnlich gnadenlos ging man mit Straffälligen um, sofern sie nicht ins Weltbild passten. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 in Deutschland (und dem „Anschluss“ Österreichs 1938) wurden die bis dahin erreichten zivilisatorischen Errungenschaften des Strafrechts weitgehend zunichte gemacht. Die Nazis instrumentalisierten das Strafrecht als Werkzeug zur Ausmerzung von „Volksfeinden“ und zur Durchsetzung ihrer rassistischen, totalitären Ziele.
In der Praxis bedeutete das, dass Strafen massiv verschärft und rechtsstaatliche Grundsätze abgeschafft wurden. Schon das austrofaschistische Regime unter Bundeskanzler Dollfuß in Österreich (1933/34) hatte – im Kampf gegen politische Gegner – Notverordnungen genutzt, um wieder Hinrichtungen durchzuführen(4). Unter den Nazis wurde dies noch ausgeweitet: Während in der demokratischen Ersten Republik (1918–1933) die Todesstrafe ausgesetzt gewesen war, feierte sie nun eine blutige Renaissance. NS-Juristen führten drakonische neue Tatbestände ein, z.B. das „Heimtückegesetz“ (1934) gegen jede regimekritische Äußerung oder die berüchtigte Verordnung gegen Volksschädlinge (1943), die im Krieg selbst auf kleinste Diebstähle die Todesstrafe verhängen konnte. Ein Beispiel für eine Bestrafung nach dem Heimtückegesetz ist der Fall von Carl von Ossietzky(13). Der Journalist und Friedensnobelpreisträger wurde 1934 wegen angeblicher „Heimtücke“ und „Verrat militärischer Geheimnisse“ verurteilt, weil er sich kritisch über die Aufrüstung Deutschlands geäußert hatte. Die Zahl der zum Tode Verurteilten und Hingerichteten schoss in die Höhe; politische Gegner, Widerstandskämpfer (wie etwa Sophie Scholl(14) in Deutschland oder Elfriede Hartmann(15) und Marie Schönfeld(16) in Österreich) sowie zahlreiche gewöhnliche Straftäter wurden hingerichtet. Allein in Wien fällte der „Volksgerichtshof“ des NS-Regimes unzählige Todesurteile.
Das Menschenbild im NS-Strafrecht war denkbar unhuman. Wer als „asozial“ oder „rassisch minderwertig“ galt, wurde nicht als Mensch mit Rechten gesehen, sondern als Schädling, den man auszurotten hatte. Eine Erziehung des Täters war nicht vorgesehen – die Nazis glaubten nicht an Resozialisierung, sondern an Auslese. So wurden etwa sogenannte Gewohnheitsverbrecher (darunter fielen oft schon Kleinkriminelle) nach Verbüßung ihrer Strafe nicht etwa entlassen, sondern in Konzentrationslager verbracht, wo viele umkamen. Im KZ-System verschwammen Strafrecht und Terror; die Inhaftierten hatten keinerlei rechtsstaatlichen Schutz mehr.
Alle Berufsgruppen wurden zu Erfüllungsgehilfen des Regimes, so auch die Richter und Staatsanwälte. Ein berüchtigtes Beispiel ist Roland Freisler, Präsident des Volksgerichtshofs, der Schauprozesse führte – in fanatischer Menschenverachtung brüllte er Angeklagte nieder und verhängte Todesurteile am laufenden Band.
Außer als Opfer spielten Frauen in der NS-Strafrechtsentwicklung keine Rolle. Weibliche Justizbedienstete waren unerwünscht; die Nazis hielten Frauen für „zu weich“ für Richterämter, sodass bis 1945 in Deutschland und Österreich keine weiblichen Richter oder Staatsanwälte existierten. Ein Glaubensmuster, das seine Wurzeln im mittelalterlichen Frauenbild hat und im Nationalsozialismus eine „Renaissance“ erlebte. Allerdings beteiligten sich einige Frauen als Gefängnisaufseherinnen oder KZ-Wächterinnen an den Repressionen, was aber eher in den außergerichtlichen Terrorbereich fällt.
Zweite Republik: Rückkehr zum humanistischen Menschenbild
Nach 1945 wurde das humanistische Menschenbild bewusst zur Grundlage des europäischen Strafrechts gemacht. Die schreckliche Erfahrung totalitärer Willkür hatte gelehrt, dass nur ein rechtsstaatlich gezähmtes, am Menschen orientiertes Strafrecht mit Demokratie und Freiheit vereinbar ist. Österreich hat in diesem Sinne zahlreiche Reformen durchgeführt, die die Tradition der Aufklärung fortführten. Doch wie wir sehen werden, bedeutet eine humanistische Gesetzeslage allein noch nicht, dass in der Praxis immer humanistisch gehandelt wird – hier tun sich im aktuellen Vollzug gewisse Spannungsfelder auf.
Nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes 1945 stand Österreich (wie ganz Europa) vor einem Neuanfang. Die Schrecken der Nazis führten zu einer bewussten Rückbesinnung auf humanistische Werte im Strafrecht. In der Zweiten Republik (ab 1945) setzte sich rasch die Überzeugung durch, dass ein freiheitlicher, demokratischer Staat nur auf einem menschenwürdigen Strafrecht beruhen kann. Das Menschenbild, das nun Leitstern wurde, knüpfte an die Aufklärung und an universelle Menschenrechte an: Jeder Mensch – auch der Straftäter – besitzt Würde und ein Anrecht auf faire, menschenrechtskonforme Behandlung. Strafe sollte nicht Rache, sondern Schutz der Allgemeinheit und Resozialisierung des Täters bedeuten.
Ein frühes Zeichen für diesen Wandel war die endgültige Abschaffung der Todesstrafe in Österreich. Nachdem bereits 1919 in der Ersten Republik die Todesstrafe für zivile Straftaten abgeschafft worden war (und ab 1934 zeitweilig durch die Diktaturen wieder angewandt wurde), verbot die Zweite Republik die Todesstrafe nun vollständig: 1950 wurde sie in Österreich für Kriminalfälle gesetzlich untersagt, 1958 auch völkerrechtlich durch die Europäische Menschenrechtskonvention bestätigt(4). 1968 schaffte man sie schließlich auch im Militärstrafrecht ab. Diese Entwicklung war Teil eines gesamteuropäischen Trends – das Recht auf Leben und die Ächtung grausamer Strafen wurden zum gemeinsamen Wertfundament und blieben es bis heute. Die letzten Hinrichtungen auf österreichischem Boden (1950 in Wien durch österreichische Justiz, 1955 in der US-Besatzungszone) liegen nun weit in der Vergangenheit.
Parallel dazu modernisierte Österreich sein Strafrecht grundlegend. In den 1960er und 70er Jahren kam es zur sogenannten Großen Strafrechtsreform. Diese umfasste mehrere Schritte: Zuerst trat das neue Strafvollzugsgesetz von 1969 in Kraft, das unter der Leitung von Justizminister Hans Klecatsky erarbeitet wurde.(19) Es stellt den Strafvollzug auf neue rechtliche und humanitäre Grundlagen. Erklärtes Ziel war es, den Vollzug vom reinen Wegsperren zum “modernen Betreuungsvollzug” weiterzuentwickeln(17). Gefangene sollten nicht mehr nur bewacht, sondern auch betreut und erzogen werden, um sie nach der Haft wieder in die Gemeinschaft einzugliedern. Dieses Gesetz formulierte klar den Anspruch, den Insassen zu einer „neuen Lebenseinstellung“ zu verhelfen und sie dafür „erzieherisch zu beeinflussen“. Damit wurde die Resozialisierung erstmals gesetzlich als gleichrangiges Vollzugsziel neben der Sicherheit verankert – ein deutlich humanistisch geprägtes Menschenbild, das auf den besserungsfähigen Menschen setzt. 1975 folgte unter Justizminister Christian Broda das neue Strafgesetzbuch (StGB) der Republik Österreich, das das alte von 1852 ablöste. Dieses war von liberalen, humanitären Überlegungen durchdrungen. Zahlreiche Delikte, die als überholt galten, wurden entkriminalisiert oder gemildert. So wurde etwa Ehebruch als Straftat abgeschafft; gleichgeschlechtliche Handlungen zwischen Erwachsenen (bis dahin streng bestraft) wurden weitgehend entkriminalisiert. Besonders bedeutsam war die Einführung der Fristenlösung im Abtreibungsrecht: 1974 beschloss das Parlament, dass ein Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten straffrei bleibt – ein Beschluss, der 1975 in Kraft trat. Diese Reform war stark von der Frauenbewegung beeinflusst. Aktivistinnen und Politikerinnen (darunter auch Johanna Dohnal) hatten jahrelang für das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung gekämpft(20). Mit der Fristenregelung wurden abtreibende Frauen endlich nicht mehr wie Verbrecherinnen behandelt, was einen Meilenstein in Richtung eines ganzheitlichen, lebensnahen Strafrechts darstellte.
Auch andere Reformen in den 1970ern trugen die Handschrift des humanistischen Menschenbildes. So wurde 1977 die gerichtliche Leibesstrafe (Auspeitschung), die theoretisch noch im Militärstrafrecht stand, abgeschafft – ein Relikt längst vergangener Zeiten. Man verbesserte den Jugendschutz: Das Jugendgerichtsgesetz stellte Erziehung vor Strafe, um jungen Tätern Chancen zur Besserung zu geben. Insgesamt setzte sich die Ansicht durch: Strafen sollen möglichst mild ausfallen, wenn der Zweck (Schutz der Gesellschaft und Besserung des Täters) auch mit milderen Mitteln erreicht werden kann. Freiheitsstrafen unter sechs Monaten wurden fast vollständig durch Geldstrafen ersetzt, um kurze Haftstrafen mit ihrem destruktiven Effekt zu vermeiden.
In dieser Phase traten Frauen erstmals vermehrt als Gestalterinnen des Strafrechts hervor. 1975 wurde in Österreich die erste Frau als Richterin an einem Strafgericht eingesetzt (Margarete Haimberger-Tanzer)(21), und 1978 folgte die erste weibliche Staatsanwältin. Die Öffnung der Justizberufe für Frauen im Jahr 1994 brachte neue Perspektiven in die Praxis ein. Vor allem aber auf politischer Ebene waren Frauen nun treibende Kräfte: Johanna Dohnal, die erste Staatssekretärin und später Ministerin für Frauenfragen, setzte sich vehement für strafrechtliche Reformen ein, die Frauen schützten. Unter ihrer Ägide wurde 1989 die Vergewaltigung in der Ehe ausdrücklich unter Strafe gestellt – etwas, das zuvor absurdum war, da die Rechtsordnung lange den Ehemann als “Haushaltsvorstand” über die Frau stellte. Dohnal kämpfte auch für die Strafbarkeit der sexuellen Belästigung und initiierte Frauenhäuser zum Schutz vor Gewalt.
Die letzten Jahrzehnte der Zweiten Republik bis in die Gegenwart zeichnen sich dadurch aus, dass das Strafrecht auf dem Papier fest im Zeichen des humanistischen Menschenbildes steht. Die österreichische Bundesverfassung wie auch internationale Abkommen (Europäische Menschenrechtskonvention, UNO-Pakte) garantieren die Achtung der Menschenwürde, das Recht auf faire Verfahren, das Verbot von Folter und erniedrigender Strafe. Die Justiz versteht sich offiziell als dienstleistende Institution für Gesellschaft und Täter. So heißt es etwa vom Justizministerium: Der Strafvollzug in Österreich orientiert sich an internationalen Menschenrechts-Standards und versteht sich als „moderner Betreuungsvollzug“(17). Zwei Hauptziele werden betont: Schutz der Gemeinschaft und Unterstützung des Straftäters, damit er durch die Haft zu einer neuen Lebenseinstellung findet. Oberstes Ziel sei es immer, den Täter wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Dieses Credo entspricht voll und ganz dem humanistischen Erbe.
Freilich gibt es auch in neuerer Zeit Diskussionen und Herausforderungen. In den 1980er und 1990er Jahren entstand wie damals in der Restauration ein Ruf nach härterem Durchgreifen („Law and Order“). Dennoch blieb Österreich dem resozialisierenden Ansatz treu. Auch weiterhin waren Frauen an Reformprozessen beteiligt: etwa Ministerinnen wie Maria Berger (2007 erste Justizministerin Österreichs) oder Alma Zadić, die beide u.a. den Opferschutz vorantrieben. Die Strafgesetznovellen der letzten Jahre – z.B. Verschärfungen bei Sexualstraftaten oder die Verankerung von Opferschutz – zeigen ein Menschenbild, das die Perspektive der Opfer und die Reintegration der Täter nach der Strafe mitdenkt.
Europäische Tradition des Humanismus und aktuelle Herausforderungen
Heute kann Europa – und damit auch Österreich – stolz auf eine lange Tradition des humanistischen Strafrechts zurückblicken. Von den ersten Vorstößen der Aufklärung im 17. Jahrhundert über die liberalen Reformen des 19. Jahrhunderts bis hin zu den modernen Menschenrechtsstandards hat sich das Bild vom Menschen als Zentrum des Strafrechts etabliert. Das humanistische Menschenbild, wonach jeder Mensch eine angeborene Würde besitzt und auch bei Verfehlungen die Chance zur Besserung verdient, ist zur geistigen Heimat des europäischen Rechts geworden. Es spiegelt sich in grundlegenden Dokumenten wie der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) wider, die Folter und unmenschliche Strafen verbietet und fairen Prozess garantiert. Es zeigt sich in den Strafvollzugsgrundsätzen: Strafen sollen dem Menschen und der Gesellschaft dienen, indem sie schützen und abschrecken, aber auch dem Täter, indem sie ihn befähigen, eine Chance zu haben, nach Verbüßen der Strafe ein rechtschaffenes Leben zu führen.
Diese Entwicklung hat viel bewirkt. Durch das humanistische Fundament wurden Grausamkeiten wie Hexenverbrennungen, öffentliche Folter oder das Köpfen von Dieben überwunden. Das Strafrecht wurde gerechter und berechenbarer: Klar definierte Tatbestände und Verfahren schützen heute vor Willkür. Vor allem aber hat das humanistische Menschenbild dazu geführt, dass der Strafvollzug einen Maßnahmenwandel erfuhr – weg vom Kerker als Vergeltungshort hin zum Gefängnis als Besserungsanstalt (so zumindest der Anspruch). In vielen europäischen Ländern gibt es Resozialisierungsprogramme, Ausbildung für Häftlinge und Übergangshilfen in die Freiheit. Dass ehemalige Straftäter wieder zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft werden können, ist im Grunde eine Erkenntnis der Humanisten des 18. Jahrhunderts, die bis heute nachwirkt. Man sieht dies auch an internationalen Empfehlungen wie den „European Prison Rules“ des Europarats(23), die die Menschenwürde im Strafvollzug betonen.
Warum also sollte das humanistische Menschenbild dem Strafrecht heute wieder mehr Orientierung geben? Moderne Gesellschaften stehen heute vor neuen Herausforderungen: Terrorismus, organisierte Kriminalität, hohe Rückfallquoten bei gewissen Delikten – all das löst schon wieder einmal Rufe nach härteren Strafen aus. Mitunter gerät dabei der humanistische Grundsatz ins Hintertreffen. Etwa wenn populistische Stimmen pauschal verlangen, Straftäter „wegzusperren und den Schlüssel wegzuwerfen“. Hier gilt es, an die europäische Tradition zu erinnern: Härte allein schafft keine sichere Gesellschaft, sie schafft nur verbitterte Menschen. Das humanistische Strafrecht hat bewirkt, dass Europa vergleichsweise niedrige Gefangenenraten und humane Haftbedingungen hat (im globalen Vergleich). Es lohnt sich, diese Errungenschaften zu verteidigen. Ein Strafrecht, das den Täter als Menschen sieht, strebt wirkungsvollere Lösungen an – Resozialisierung wo möglich, gezielte Maßnahmen statt pauschaler Brutalität. Studien zeigen, dass Länder mit resozialisierungsorientiertem Vollzug tendenziell weniger Rückfälle haben. Somit ist das humanistische Menschenbild nicht nur moralisch richtig, sondern auch praktisch sinnvoll.
Dennoch darf man auch nicht blauäugig sein: Zwischen dem Ideal auf dem Papier und der Realität in der Zelle klafft bisweilen eine Lücke. Abschließend soll daher beleuchtet werden, welches Menschenbild aktuell im österreichischen Strafvollzug unter den Justizwachebeamten (Gefängnisaufsehern) vorherrscht – trotz humanistischer Gesetzeslage. Hier berichten Untersuchungen von einem gewissen Spannungsverhältnis. Mit Einführung des neuen Strafvollzugsgesetzes 1970 änderte sich zwar offiziell die Rolle der Justizwache: Plötzlich sollten die Beamten nicht nur für Sicherheit und Ordnung sorgen, sondern auch bei der Erziehung und Resozialisierung der Insassen mitwirken(24). In der Praxis entstand daraus der „Resozialisierungs-Sicherheits-Rollenkonflikt“. Viele Justizwachebeamte fühlten (und fühlen) sich primär als Wachorgan zur Aufrechterhaltung von Disziplin – ein Selbstverständnis, das historisch gewachsen ist. Tatsächlich war der Strafvollzug in Österreich über Jahrhunderte stark militärisch geprägt: Bis weit ins 20. Jahrhundert wurden ehemalige Soldaten als Aufseher eingesetzt, Ausbildung war kaum nötig, vorausgesetzt wurde lediglich Befehlsgehorsam. Dieses Erbe wirkt bis heute nach. Noch Anfang der 1990er stellte man fest: Das Bild des Justizwachebeamten hat sich zwar in der Theorie gewandelt, aber „nicht wirklich gut“ in der öffentlichen Wahrnehmung und auch unter den Beamten selbst. Der Beruf wird selten als Traumjob gewählt, viele treten aus Mangel an Alternativen ein.
So dominieren unter manchen Justizwachebeamten tendenziell pessimistische oder autoritäre Sichtweisen, nicht nur auf die Häftlinge – ein reduktionistisches Menschenbild, das eher an den „zu verwaltenden Störenfried“ anknüpft als an den „fehlgeleiteten Bürger, den man zurück in die Gesellschaft führen kann“. Eine Diplomarbeit über Justizwachebeamte merkte an, dass Gefängnisse als bürokratische Institutionen oft auf dem Modell des „homo oeconomicus“ beruhen – Ziele wie Ordnung, Rationalität und Uniformität stehen im Vordergrund. Das lässt wenig Raum für Erziehung und individuelle Betreuung. Kurz gesagt: Trotz humanistischer Gesetzestexte hat die Kultur im Strafvollzug teils noch ein anderes Gesicht. Viele Beamte sehen ihre Hauptaufgabe nach wie vor darin, Befehle auszuführen und Sicherheit zu gewährleisten, und weniger darin, sich um die Erziehung der Gefangenen zu kümmern. Das ist verständlich – der Dienst ist fordernd und die Sicherheit darf nie außer Acht gelassen werden. Doch es zeigt, dass das humanistische Menschenbild eingeübt und vorgelebt werden muss, nicht nur gesetzlich verordnet.
Das humanistische Menschenbild wurde zur europäischen Tradition, weil es mit den Werten der Aufklärung, der Menschenrechte und der christlich-sozialen Ethik im Einklang steht. Es hat das Strafrecht menschlicher gemacht – gerechter, milder, wirkungsorientierter. Diese Tradition zu bewahren ist wichtig, denn sie schützt uns davor, in blinden Straffuror oder Totalitarismus zurückzufallen. Gleichzeitig muss man daran arbeiten, dass dieses Menschenbild nicht nur in den Büchern steht, sondern in der täglichen Praxis des Strafvollzugs umgesetzt wird – selbst hinter Gittern, wo die Versuchung groß ist, in alte Muster von „Befehl und Gehorsam“ zurückzufallen. Europa hat gezeigt, dass Sicherheit und Humanität kein Widerspruch sind: Ein Strafrecht, das den Menschen ernst nimmt, dient letztlich uns allen – es hält die Gesellschaft human und sicher zugleich. Es liegt an uns, diese Errungenschaft auch für künftige Generationen zu bewahren und im Alltag mit Leben zu füllen.
Quellen:
- Tötung der Intimpartnerin – Täterprofile und Beziehungskonstellationen bei häuslicher Gewalt und Tötungsdelikten, Absatz Gewalthemmung und Tötungshemmung, springermedizin.de
- Todesstrafe: Römer bevorzugten vor allem eine Form der Hinrichtung – welt.de
- Codex Iuris Canonici, wikipedia
- Torture and execution | Die Welt der Habsburger, habsburger.net
- Kurze Lehrsätze über das Laster der Zauberei, digitale-sammlungen.de
- Ohne Todesstrafe: die fortschrittliche Toskana von 1786, lto.de
- „Über die Abschaffung der Folter“, Joseph von Sonnenfels, beic.it (Biblioteca Europea di Informazione e Cultura)
- Constitutio Criminalis Theresiana – Wikipedia
- Josephinisches Strafgesetzbuch – Wikipedia
- Tumulte auf dem Galgenhügel – Vor 150 Jahren gab es die letzte Hinrichtung eines Kapitalverbrechers. Bei der Spinnerin am Kreuz wurde Georg Ratkay gehenkt, bmi.gv.at
- Elizabeth Fry – Wikipedia
- Auguste Fickert – geschichtewiki.wien.gv.at
- Carl von Ossietzky – Wikipedia
- Sophie Scholl – Wikipedia
- Elfriede Hartmann – Wikipedia
- Marie Schönfeld – Wikipedia
- Strafvollzug – Ziele und Aufgaben, justiz.gv.at
- Strafvollzugsgesetz Österreich, 1969-heute
- Hans Richard Klecatsky – geschichtewiki.wien.gv.at
- Johanna Dohnal, parlament.gv.at
- Margarete Haimberger-Tanzer – Wikipedia
- Frauen in der Justizwache, Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie, uibk.ac.at
- European Code of Ethics for Prison Staff, Council of Europe
- Diplomarbeit Determinanten der Inanspruchnahme sozialer sowie professioneller psychologischer Unterstützung von Justizwachebeamten im österreichischen Strafvollzug, univie.ac.at
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