Unterrichtsfach: Behindertenarbeit
26.10.2025
Definition
Der Begriff Urvertrauen und sein Gegenstück Urmisstrauen stammen aus der Entwicklungstheorie von Erik H. Erikson.
Erikson gilt als einer der bedeutendsten Psychoanalytiker und Entwicklungspsychologen des 20. Jahrhundert. Gemeinsam mit seiner Ehefrau, der kanadische Erzieherin, Tanzwissenschaftlerin und Kunsttherapeutin Joan Mowat Erikson, entwickelte er das Konzept der „Psychosozialen Entwicklung“, das den gesamten Lebenslauf eines Menschen in acht aufeinanderfolgende Phasen gliedert. Jede Phase ist durch einen zentralen Konflikt gekennzeichnet, den das Individuum bewältigen muss, um sich gesund weiterentwickeln zu können.
Urvertrauen und Urmissvertrauen bilden gemeinsam die erste Entwicklungsphase nach Erikson. Sie findet im ersten Lebensjahr statt – also in der Zeit, in der das Kind völlig abhängig von seinen Bezugspersonen ist.
- Urvertrauen bedeutet ein grundlegendes Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit und Verlässlichkeit. Das Kind erfährt, dass seine Bedürfnisse (Hunger, Nähe, Schutz) verlässlich gestillt werden. Dadurch entsteht das Vertrauen: „Die Welt ist ein guter, verlässlicher Ort.“
- Urmisstrauen entsteht, wenn die Bezugspersonen unzuverlässig, abweisend oder inkonsistent sind. Das Kind erfährt Unsicherheit und lernt: „Die Welt ist unberechenbar und gefährlich.“
Diese frühe Erfahrung prägt laut Erikson die Grundhaltung des Menschen gegenüber sich selbst und der Umwelt. Das Urvertrauen ist somit Basis für die spätere Beziehungsfähigkeit.
Basales Vertrauen
Der Begriff „basales Vertrauen“ ist ein Synonym für Urvertrauen. Er betont das Fundamentale, also die „Basis“, dieses Gefühls. Es ist das psychologische Fundament, auf dem spätere Fähigkeiten wie Selbstvertrauen, Beziehungsfähigkeit und Autonomie aufbauen. Fehlt das Basale Vertrauen, gerät die gesamte weitere Entwicklung ins Wanken. Ohne das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit fehlt die Grundlage für Selbstständigkeit, Initiative, Leistungsbereitschaft und Identitätsbildung.
Verknüpfung mit der Bindungstheorie
Die Bindungstheorie steht in engem Zusammenhang mit Eriksons Konzept. Erikson beschreibt das Urvertrauen als psychosozialen Entwicklungsschritt, die Bindungstheorie liefert die empirische Grundlage, wie dieses Vertrauen entsteht.
- Ein sicher gebundenes Kind (laut Ainsworth) erfährt, dass seine Bezugsperson verlässlich reagiert. Es entwickelt Sicherheit und Vertrauen – das entspricht Urvertrauen.
- Ein unsicher oder desorganisiert gebundenes Kind erlebt Unzuverlässigkeit, Angst oder Ablehnung – das entspricht Urmisstrauen.
Die Bindungstheorie beschreibt die beobachtbaren Beziehungen, durch die sich das von Erikson postulierte Urvertrauen oder Urmisstrauen bildet.
Was bedeutet das für die Behindertenarbeit?
Jede pädagogische, pflegerische oder therapeutische Beziehung muss auf der Schaffung von Sicherheit, Verlässlichkeit und Geborgenheit aufbauen. Besonders Menschen mit Behinderungen – unabhängig von Art oder Ausmaß der Beeinträchtigung – sind häufig in höherem Maß auf stabile, vertrauensvolle Beziehungen angewiesen, da sie in vielen Lebensbereichen von Unterstützung abhängig sind.
Das Urvertrauen bildet auch hier das Fundament, auf dem Entwicklung, Selbstständigkeit und soziale Teilhabe überhaupt erst möglich werden. Wird es nicht erlebt – etwa durch wechselnde Betreuungspersonen, fehlende emotionale Zuwendung oder Unsicherheit im Umgang – können sich Misstrauen, Rückzug, Angst oder herausforderndes Verhalten verstärken.
Für die Praxis bedeutet das, dass Fachkräfte in der Behindertenarbeit durch eine verlässliche, wertschätzende und empathische Beziehungsgestaltung das Erleben von Sicherheit fördern. Ein strukturierter Alltag, vorhersehbare Abläufe und klare Kommunikation unterstützen dabei, Vertrauen aufzubauen. Ebenso wichtig ist eine konsequente, respektvolle Haltung, die den Menschen in seiner Individualität ernst nimmt.
Das Ziel ist, durch das Erleben von Urvertrauen die Voraussetzungen für Selbstvertrauen, emotionale Stabilität und soziale Entwicklung zu schaffen. Somit wird das Basale Vertrauen auch in der Behindertenarbeit zur Grundlage jeglicher Förderung und Begleitung – es ist der „Boden“, auf dem alle weiteren Entwicklungsschritte aufbauen.
Quellen:
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Weiterführende Literatur zum Thema Bindungstheorie:
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